Wäre es nach Ururgroßvater Anton gegangen, stünde dort, wo ihr heute euren Urlaub genießt, eine Schuhfabrik. Das muss man sich mal vorstellen! Ich bin froh, dass es anders gekommen ist. Sonst hätten wir – also ihr und ich und meine Hofleute – uns am Ende nie kennengelernt. Wenn ihr Lust habt, erzähle ich euch diese Geschichte, die ein wunderbares Beispiel dafür ist, dass den Mutigen die Welt gehört und auch ein Schuster nicht bei seinen Leisten bleiben muss, wenn er sich nach etwas anderem sehnt.
Das Schnalstal als Hochburg der Schuhmacherei
In einer Zeit, in der Stilettos und Sneaker und Loafers und Barfußschuhe noch ferne Zukunftsmusik war, lebte ein Mann namens Anton. Der Anton war ein fleißiger Schuhmacher und fabrizierte ordentliche Schuhe. Darum konnte er in den 1880er Jahren einen kleinen Hof im Schnalstal kaufen. Ihr habt es erraten – das war ich, der Oberraindlhof! Schuster Antons Frau Aloisia bekam einen Sohn, den sie wie damals halt so üblich, ebenfalls Anton tauften. Und dieser Anton der Zweite, sollte es mit der Schusterei noch weiter bringen als sein Herr Papa.
Dort, wo ihr heute meine Raffeinerstube findet, war früher die Schusterei untergebracht. Der zweite Anton machte so hervorragende Schuhe, dass sich diese in ganz Oberitalien verkauften wie die warmen Semmeln. Auch das Reparieren von löchrig gewordenen Stiefeln gehörte zum Geschäft. Denn wie das damals eben so war, war das Geld bei vielen Leuten knapp und ein Schuh wurde so lange getragen und geflickt, bis es wirklich nicht mehr ging. Apropos gehen: Der Anton und seine Gesellen waren auch regelmäßig auf Wanderschaft, sie zogen von Hof zu Hof, um gleich vor Ort das Schuhwerk der Bauersleute auf Vordermann zu bringen. „Auf Stear gehen“, hieß das damals.
Eine Schusterfamilie geht mit der Zeit
Und so zogen die Jahre ins Land und auch Anton der Dritte wurde Schuhmacher. Er baute den Betrieb weiter aus, denn in meiner alten Stube wurde es eng, dicht an dicht saßen die fleißigen Schuhmacher. Ganze neun davon brauchte der Anton Junior, er macht dem guten Namen seines Vaters (und Großvaters) alle Ehre. Aber dann passierte etwas, mit dem die fleißigen Schuhmacher schon gerechnet hatten: Das Geschäft ging zurück. Langsam, aber sicher. Was für ein Glück, dass Anton (der Dritte) ein äußerst um- und weitsichtiger Mensch war. Er verstand, dass er mit den großen Schuhfabriken in den fernen Ländern nicht mehr mithalten konnte, so schade es auch war. Kurz überlegte er, zu vergrößern und selbst eine Schuhfabrik zu bauen. Aber es sollte anders kommen. Bebenden Herzens, aber voller Tatendrang und Zuversicht marschierte er gemeinsam mit seiner Frau Zita hinab ins Tal und meldete eine Lizenz zur Vermietung von Fremdenzimmern an, wie es damals hieß. Denn die Bergsteiger aus aller Welt hatten mich, den Oberraindlhof, als hervorragenden Ausgangspunkt für ihre alpinen Touren und als erholsamen Ort für die Sommerfrische entdeckt. Und schaut nur, was die folgenden Generationen aus mir gemacht haben!
Schöne Schuhe und der Mut zum Träumen
Wie großartig man bei mir Urlaub machen kann, brauche ich euch ja nicht zu erzählen, aber eines sei noch verraten: Das Erbe der alten Schusterei wirkt bis ins heute nach: Mein Seniorchef Helmuth ist unter den Älteren im Dorf immer noch als „Schuster Helmuth“ bekannt. Wenn euch meine Hofleute also das nächste Mal ein bisschen zu lang auf die Schuhe schauen, müsst ihr ihnen das nachsehen. Denn die Begeisterung für schönes Schuhwerk hat sich über die Generationen doch irgendwie in der Familie gehalten. Jetzt seid ihr dran! Habt ihr auch eine Geschichte, die davon erzählt, dass man entgegen dem Sprichwort eben nicht bei seinen Leisten bleiben muss? Schreibt mir doch einfach eine Mail, oder flüstert sie mir bei eurem nächsten Aufenthalt im Schnalstal zu!
Euer Oberraindlhof